2 – Charakterentwicklung

Hallo und willkommen zum Workshop Charakterentwicklung. Bevor wir loslegen, erneut der Hinweis, dass es sich bei den vorgestellten Methoden und Theorien um meine favorisierten Vorgehensweisen handelt, die ich aus den unterschiedlichsten Quellen über die Jahre für mich ausgewählt habe. Dies bedeutet nicht, dass sie auch für euch funktionieren müssen. Abgesehen davon ist nichts in Stein gemeißelt und alles erlaubt.

Und nun zum eigentlichen Artikel: Wenn es um die Entwicklung von Charakteren in Geschichten geht, wird es meistens schnell schwammig. Es gibt zig Methoden und Theorien, die manchmal derart ausufern, dass einem die Lust am Schreiben vergehen könnte, bevor man überhaupt angefangen hat. Außerdem ist es immer leichter, etwas in ein bestehendes Werk hineinzuinterpretieren, als selbst eines zu erschaffen. Das hat zur Folge, dass oft derselbe Charakter und dessen Entwicklung völlig unterschiedlich bewertet werden. Und das meist von Kritikern, die selbst nichts Vergleichbares geschaffen haben.

Nichtsdestotrotz schadet es nicht, einige der Modelle und Theorien zur Charakterentwicklung zu kennen. Auch wenn man mit den eigenen Figuren später vielleicht anders verfährt.

CHARAKTERENTWICKLUNG

Was bedeutet Charakterentwicklung eigentlich? Einfach ausgedrückt, eine meist interne und damit emotionale Veränderung oder Transformation, die der Protagonist im Laufe der Geschichte durchlaufen muss, um am Ende – im besten Fall – den externen Konflikt lösen zu können. Vielleicht scheitert er auch bei dem Versuch, aber beschränken wir uns vorerst auf den positiven Character Arc, um die Sache einfach zu halten. ‚Character Arc‘ ist nur eine andere Bezeichnung für ‚Charakterentwicklung‘, die gerne in englischsprachigen Fachkreisen verwendet wird.

Diese innere Transformation kann übrigens durch äußere Veränderungen unterstützt werden. So könnte sich die schüchterne Novizin im Lauf der Story die Haare modisch schneiden und färben lassen, aufreizende Kleidung tragen und / oder von der abgeschiedenen Einöde nach New York ziehen. Selbstbewusste Entscheidungen, die die innere Veränderung der anfangs schüchternen Figur reflektieren und nach außen tragen.

Bevor wir uns allerdings mit den verschiedenen Möglichkeiten der Charakterentwicklung beschäftigen, würde ich gerne einen Blick darauf werfen, was einen Charakter überhaupt ausmacht.

CHARAKTER

Eine komplexe fiktive Figur besteht neben ihren grundlegenden Eigenschaften aus Erfahrungen ihrer Vergangenheit (Ghosts), die ihre Ansichten und Überzeugungen, den moralischen Kompass und damit ihre Handlungen in der Gegenwart begründen.

Diese Geister der Vergangenheit können Traumata, schlechte sowie gute Erfahrungen oder einfach nur prägende Erlebnisse sein, die bis in die Gegenwart wirken und für Schwächen oder Stärken verantwortlich sein können. Sie können sich auch in negativen Verhaltensmustern äußern, die der Figur beim Erreichen ihrer Ziele im Rahmen der jeweiligen Geschichte im Weg stehen.

Unter Moral Compass wird verstanden, wie die Figur generell Probleme bewältigt oder sich in gewissen Situationen verhält. Manche gehen über Leichen, um zu bekommen, was sie wollen, andere könnten nicht mal einer Fliege etwas zuleide tun. Diese unterschiedlichen Grundeinstellungen wirken sich natürlich später auf die Art der gewählten Lösungsansätze aus, um Hindernisse oder Probleme zu überwinden oder in ersterem Fall – aus dem Weg zu räumen 🙂 . 

FLAW

Oft muss im Rahmen der Charakterentwicklung eine Schwäche, ein falscher Glaubenssatz oder eine falsche Überzeugung überwunden werden oder es gibt eine schlechte Eigenschaft, die der Lösung des externen Konflikts oder dem Ziel der Figur im Weg steht. Dieser Mangel wird im Englischen als Flaw bezeichnet. Das Konzept setzt also voraus, dass der Figur am Anfang der Geschichte etwas fehlt, weshalb sie nicht ‚ganz‘ oder nicht ‚heil‘ ist.

Der Flaw wird mithilfe mehrerer auf das Problem zugeschnittener Ereignisse, die der Figur während der Geschichte ihre Unzulänglichkeiten vor Augen halten, überwunden. Meist braucht es einige Anläufe, bis sie den Mangel erkennt und sich ändert.

Die für die Veränderung nötigen Ereignisse werden auch Emotional Plot Points genannt, weil sie den Charakter auf emotionaler Ebene beeinflussen. Sie sind den im Artikel zur Story Structure vorgestellten Story Beats ähnlich, beschränken sich aber auf die Transformation der Figur.

Außerdem bestehen fiktive Charaktere aus einem externen Part, der sich aus ihrem Aussehen, ihrem Job und ihren erlernten Fähigkeiten zusammensetzen kann. Oft haben sie auch eine spezielle ‚Superkraft‘, die uns als Leser, die wir meist nicht vom Fach sind, entsprechend fasziniert. Man denke nur an Anwälte, Ermittler, Tatortreiniger, Tiefseetaucher oder was auch immer. Allerdings sollte man aufpassen, dabei nicht zu übertreiben.

Als Beispiel für etwas zu viel des Guten würde ich Shooter von Stephen Hunter anführen. Diesen Roman wollte ich lesen, weil ich die Verfilmung mit Mark Wahlberg gesehen und mich gut unterhalten gefühlt hatte. Der Autor kennt sich anscheinend gut mit Munition aus, was er dem Leser auch seitenweise unter die Nase reibt. Und zwar so viel, dass ich die öde Fachsimpelei schließlich überblättern musste. In den USA mag es genug Waffenfetischisten geben, die etwas aus diesen Informationen ziehen können, in Deutschland dürfte sich diese spezielle Zielgruppe eher in Grenzen halten. Das sollte man bedenken, bevor man eine ‚Superkraft‘ für die Figur wählt.

Aufs Wesentliche reduziert, besteht der Charakter also aus einer inneren und einer äußeren Ebene.

Woraus besteht ein ‚Charakter‘? – Erich Schreiner Autor

Hinweis: Sich Gedanken über die Vergangenheit einer Figur zu machen, bedeutet nicht, dreißig Seiten an Backstory zusammenzuschreiben. Für mich wäre das Zeitverschwendung. Stattdessen würde ich mich auf die Umstände oder Ereignisse ihrer Vergangenheit (Ghosts) konzentrieren, die wichtig für das Verhalten und ihre Ansichten in der Gegenwart sind. Denn im Normalfall muss nur ein Trauma überwunden oder eine Lektion im Rahmen der Geschichte gelernt werden. 

Beispiele: Bei Finding Nemo besteht das Trauma für Nemos Vater aus dem Verlust seiner Frau und seiner anderen Kinder (Fischeier), die von einem Barrakuda gefressen wurden. Nur Nemo hat überlebt. Deshalb behütet sein Vater ihn wie ein waschechter Helikopterdaddy. Im Lauf der Geschichte muss er allerdings lernen, dass er seinen Sohn nicht ewig beschützen kann, mit dem Ergebnis, ihn nicht mehr unter seiner übertriebenen Fürsorge zu ersticken und loszulassen.

Bei Lethal Weapon besteht das Trauma für Riggs aus dem Tod seiner Frau. Deshalb wirkt er oft suizidal gefährdet und begibt sich kopflos in Situationen, die ihn diesen kosten könnten. Im Gegensatz zu Nemos Vater lernt er aber nichts daraus. Er bleibt für den Rest des Films derselbe Charakter.

PROTAGONIST

Da wir die Geschichte größtenteils durch die Hauptfigur erleben, sollte unser Held einige grundlegende Eigenschaften mitbringen, die es uns ermöglichen, sich mit ihm oder ihr zu identifizieren. Wenigstens bis zu einem gewissen Grad.

Protagonisten verhalten sich eher proaktiv, jammern, obwohl sie meist eine Menge einstecken müssen, nicht ständig rum und sind deshalb im Grunde ›larger than life‹. Das bedeutet, dass sie mit Stresssituationen anders umgehen als ›normale‹ Menschen. Meist handeln sie so, wie wir es im Angesicht entsprechender Problemsituationen gerne tun würden, es aber am Ende aus Angst vor möglichen Konsequenzen nicht machen. Außerdem wachsen sie oft über sich hinaus, um ihre Nemesis am Ende der Geschichte in die Knie zwingen zu können.

Zum Anfang der Story werden sie zwar gerne durch äußere Umstände oder Entscheidungen anderer herumgeschubst, aber sie lassen sich nie unterkriegen und stellen sich früher oder später dem Konflikt der Geschichte. Wenn sie das nicht täten, wär die Story vorbei und wir würden uns enttäuscht einer anderen zuwenden.

Ein Protagonist, der nicht nur einsteckt, sondern auch hin und wieder austeilt, ermöglicht es uns, an seinem Kampf teilzuhaben. Immerhin wollen wir mit jemandem mitfiebern, ihn leiden und einen Haufen Probleme überwinden sehen. Wir wollen Zeugen werden, wie er den Konflikt löst, das Problem beseitigt und sein Ziel erreicht – oder dabei untergeht, je nachdem.

Was wir nicht wollen, ist eine Figur, die die ganze Geschichte lang durch die Gegend geschubst wird, in Selbstmitleid ertrinkt und sich nie erhebt (typische Opferrolle). Ich spreche hier natürlich nur für mich selbst, aber diese Art von Drama würde ich persönlich nicht lange mitmachen.

Was macht einen Protagonisten aus? – Erich Schreiner Autor

INTERESSANT ODER SYMPATHISCH

Auch hier gehen die Meinungen auseinander: Manche Ratgeber vertreten die Ansicht, dass es reicht, wenn ein Charakter ‚interessant‘ ist, andere schwören darauf, ihn 'sympathisch‘ machen zu müssen. Am besten wäre wohl eine Mischung aus beidem, wie ich finde, weil ich persönlich schon denke, dass man mit einer sympathischen Figur mehr Bindung erreichen kann, als mit einer, die lediglich interessant ist.

Wie erreicht man Sympathie?

Zum Beispiel durch Mitleid. Natürlich sollte man nicht damit übertreiben, aber Hand aufs Herz: Wer von euch ist so eiskalt, dass ihm …

  • ein Junge, der seine Eltern verloren hat und in einem Verschlag unter der Treppe seiner Pflegeeltern leben muss (Harry Potter)
  • eine künstliche Intelligenz im Körper eines Elfjährigen, die von ihren Eltern ausgesetzt wird (A.I.)
  • ein erfolgloser kranker Clown, über den sich alle nur lustig machen (Joker)
  • ein junger Farmer, dessen Onkel und Tante samt Farm durch das Imperium vernichtet werden (Star Wars)
  • ein einsamer Roboter, der auf einem Planeten voller Müll ausharrt (Wall-E)

… nicht auch ein wenig leidtut. Der Punkt beim Mitleid ist, dass es nicht überhandnehmen sollte. Also passt auf, dass ihr nicht das Gegenteil erreicht, weil der Grat zwischen ›der tut mir leid‹ und ›was für ein Waschlappen‹ eher schmal ist. Für Mitleid sorgen in der Regel Ungerechtigkeiten aller Art, die am besten gezeigt werden sollten.

Humor

Figuren, die witzig sind, findet man fast automatisch sympathisch, solange es nicht übertrieben, aufgesetzt oder aufdringlich wirkt. Ich wette, dass jeder von euch die Gesellschaft eines lustigen Charakters einem ständig griesgrämigen vorziehen würde. Mein Pech ist, dass ich kein Talent fürs Schreiben von Humor habe, ergo muss ich mich auf die anderen Methoden beschränken 🙂 .

Taten

Wie wir alle wissen, sagen Taten mehr als tausend Worte, weshalb das beste Mittel zur Charakterisierung eben auch Handlungen darstellen. Ganz nach dem völlig überbewerteten ›show, don’t tell‹-Dogma. Wenn Figuren also gute Taten vollbringen, finden wir sie in der Regel auch sympathisch. Die Möglichkeiten hierfür sind selbstredend grenzenlos.

MOTIVATION

Unsere Hauptfigur sollte ausreichend motiviert sein, all die Prüfungen und Problemstellungen, die wir ihr im Rahmen der Geschichte zwischen die Beine werfen, auch überwinden zu wollen. Dazu braucht sie ein greifbares und nachvollziehbares Ziel sowie einen Einsatz (Stake), der hoch genug ist, um sie nicht frühzeitig aufgeben zu lassen. Falls die Romanfigur also einfach das Handtuch werfen und sich die Zeit mit etwas Angenehmerem vertreiben könnte, ist der Einsatz nicht hoch genug.

EXTERNE ZIELE

Das externe Ziel des Protagonisten wird im Englischen gerne als Want bezeichnet. Also das, was er will. Meist handelt es sich dabei um greifbare und nachvollziehbare Ziele, die die Handlung vorantreiben. ‚Wants‚ können sich im Lauf der Geschichte ändern.

Beispiele: Luke Skywalker will Prinzessin Leia aus den Klauen des Imperiums retten, danach ein Jedi werden und den Todesstern vernichten (Star Wars). Indiana Jones möchte die Bundeslade vor den Nazis finden, die Avengers (Marvel) Thanos aufhalten, Uthred Ragnarsson (The Last Kingdom) Bebbanburg zurückerobern und Harry Potter unter anderem: Den Stein der Weisen finden, das Geheimnis um die Kammer des Schreckens lösen, das trimagische Turnier gewinnen, etc.

Abgesehen davon gibt es aber auch interne Ziele, die das Innenleben der Figur betreffen.

INTERNE ZIELE

Das interne Ziel, falls vorhanden, treibt die Charakterentwicklung voran und ist dem Protagonisten anfangs meist nicht bewusst. Deshalb wird es im englischen Sprachraum auch als Need bezeichnet. Also etwas, das man braucht, um ›ganz‹ zu werden.

Interne Ziele stehen den externen oft entgegen. Der Charakter verfolgt verbissen das, was er will (mehr Geld, mehr Macht, ein besserer Job, ein glorreicher Sieg etc.) und übersieht dabei das, was er braucht.

Sully (Die Monster AG) beispielsweise möchte im Job aufsteigen (Want). Boo steht diesem Ziel anfangs im Weg, bis er lernt, dass er sie in seinem Leben braucht, weil sie ihn glücklich macht (Need).

Oft werden diese Figuren bezüglich ihrer externen und internen Ziele vor eine schwierige Entscheidung gestellt (Dilemma). Einige wählen zuerst den ‚Want‘, bekommen einen gewaltigen Tritt verpasst (Down Moment, Ende dritter Akt), lernen die Lektion (oder erkennen den Fehler), und ersetzen das, was sie wollen durch das, was sie brauchen (Need). Dabei wird meist die Moral der Geschichte ersichtlich.

In Sullys Fall muss er lernen, dass Boo um sich zu haben ihn weitaus glücklicher macht, als ein besser bezahlter Job es je könnte. Die Moral könnte somit lauten: Prestige ist ohne Liebe nichts wert oder Geld allein macht nicht glücklich etc. Im Großen und Ganzen laufen diese moralischen Aussagen meistens auf universelle Lebensweisheiten hinaus, die uns allen geläufig sein dürften.

Ein äußeres Ziel, dem ein inneres gegenübersteht, führt oft zu einem internen Konflikt, der überwunden werden muss, um den externen lösen zu können. Dadurch wird die Veränderung der Figur innerhalb der Geschichte erst ersichtlich, weil sie die ausschlaggebende Entscheidung zum Lösen des externen Konflikts am Anfang der Story – als sie noch von ihren alten Überzeugungen und Denkmustern eingeschränkt wurde – nicht hätte treffen können!

Bei Finding Nemo zum Beispiel muss Marvin gegen Ende einsehen, seinem Sohn den nötigen Freiraum zu gewähren, um Dory aus dem Fischernetz retten zu können. Zu dieser Entscheidung hätte er sich am Anfang der Story nicht durchringen können. Erst nachdem er gesehen hat, zu was seine Angst vor dem Ozean und seine Überfürsorglichkeit Nemo gegenüber geführt haben, gesteht er ihm den nötigen Freiraum zu, worauf er Dory rettet.

HINDERNISSE

Da es äußerst langweilig wäre, wenn der Protagonist sein Ziel ohne größere Widerstände erreichen würde, sollte man für entsprechende Barrieren sorgen, die ihm das Leben so schwer wie möglich machen. Dies können ein oder mehrere Antagonisten, höhere Gewalt (Sturm, Vulkanausbruch etc.) oder auch ein interner Konflikt sein (Dilemma, Flaw).

Falls der Charakter im Rahmen der Geschichte etwas lernen soll, sollten die Barrieren auf die jeweilige Lektion zugeschnitten sein. Im Falle Sullys (Die Monster AG), stellt Boo das Hindernis dar. Sully will sie zuerst loswerden, weil er innerhalb der AG aufsteigen möchte, bis er sie lieben lernt und erst versteht, dass er nicht auf sie verzichten will, als es fast zu spät ist.

STAKES

Was steht für den Protagonisten auf dem Spiel, falls er sein Ziel nicht erreicht?

›Stake‹ bedeutet Einsatz und beschreibt, auf was die Figur verzichten muss, wenn sie scheitert. Je persönlicher dieser Einsatz ist, desto höher ist die Motivation, das Ziel zu erreichen. Demzufolge kann auch etwas Harmloses wie ein Talentwettbewerb ein hoher Einsatz sein, solange ein etwaiger Sieg für den Protagonisten die Welt bedeutet – die nach einem eventuellen Scheitern zusammenbrechen würde.

Beispiele: Brian Mills (Taken) würde seine Tochter an einen Prostituiertenring verlieren, falls er scheitert. Die Avengers müssten auf die Hälfte der Bevölkerung der Erde und damit viele Freunde verzichten, wenn sie Thanos nicht stoppen. Für Frodo stehen neben Mittelerde vorwiegend seine treuen Begleiter und das Auenland auf dem Spiel, falls er es nicht schafft, den Ring in den Schicksalsberg zu werfen.

Dabei können neben externen Stakes (physisch, z.B. Leben oder Tod) auch interne (emotional, z.B. gebrochenes Herz) oder philosophische (wertorientiert, z.B. Gut gegen Böse) zum Einsatz kommen.

Stakes, die hoch genug sind, sorgen für die nötige Motivation des Protagonisten, sein Ziel bis zum Schluss der Geschichte zu verfolgen.

Was treibt den Charakter an, um bis zum Ende der Geschichte durchzuhalten? – Erich Schreiner Autor

TRANSFORMATIONSPROZESS

Falls sich ein Teil der zu erzählenden Geschichte um das Überwinden einer Schwäche oder dem Lernen einer Lektion dreht, würde es sich anbieten, diverse Ereignisse zu erfinden, die zum gewünschten Ergebnis führen könnten.

Luke Skywalker muss zum Beispiel in einer Nebenhandlung, die seine Ausbildung zum Jedi und dem damit verbundenen essentiellen Vertrauen in die Macht betrifft, lernen, eben dieser zu vertrauen. Der Handlungsstrang wird kurz vor Ende des Showdowns abgeschlossen, bevor er die Torpedos in die Schwachstelle des Todessterns abfeuert und er eine Vision Obi Wan Kenobis hat, die ihm sagt, er solle auf die Macht vertrauen (Trust the force, Luke …).

Danach klappt er die Zielvorrichtung ein und feuert die Torpedos nach Gefühl ab. Diese Entwicklung geht über mehrere vorangehende Szenen, in denen Obi Wan versucht, Luke zu erklären, dass er sich auf die Macht einlassen muss, um ein Jedi werden zu können.

Um diese Charakterentwicklung vorauszuplanen, bietet es sich gegebenenfalls an, sie isoliert vom Rest der Geschichte zu erarbeiten und als eigenen Handlungsstrang zu betrachten. Auf weitere Plot Cycles gehe ich im Artikel über das Plotten ein.

Folgend ein schnell gestricktes Beispiel von aufeinander aufbauenden Ereignissen, die zum Ziel haben, der Figur eine Lektion zu erteilen.

Screenshot

Und nun zurück zur Charakterentwicklung.

CHARACTER ARCS

Nachdem wir uns angesehen haben, was einen fiktiven Charakter ausmacht, warum er ein Ziel, Hindernisse und einen entsprechend hohen Einsatz braucht, können wir folgend einen Blick darauf werfen, welche Charakterentwicklungen sich bewährt haben.

Für diesen Bereich haben sich zwei Bücher hervorgetan, die ich weit besser als andere Ratgeber zum Thema finde und ungefähr zum selben Ergebnis kommen. Auch wenn K.M. Weiland’s Creating Character Arcs etwas ausufert. Jedenfalls meiner Meinung nach. Deshalb fand ich Anthony Mullins’ Beyound the Hero’s Journey weitaus brauchbarer.

Grundlegend existieren für beide Autoren sechs Charakterentwicklungen oder Character Arcs, die vom Typ der Figur abhängen. Je nachdem, ob es sich um einen Change Character – also einen Charakter, der sich ändert – oder um einen Constant Character handelt. Wobei der konstante Protagonist anstatt sich selbst, seine Umwelt und die darin existierenden Figuren verändern kann.

Ein Change Character hat meist – wie oben bereits angesprochen – eine Schwäche, einen Denkfehler, eine schlechte Eigenschaft oder falsche Überzeugungen, die überwunden werden müssen, um etwas zu lernen, sich zu verändern und gegebenenfalls den externen Konflikt lösen zu können.

Ein Constant Character dagegen ist eine in sich gefestigte Figur, die ihre Lektion bereits gelernt hat. Sie geht entschlossen vor und begeistert die Leser oder Zuschauer oft durch überragende Fähigkeiten, spezielle Kenntnisse oder einfach nur extreme Hartnäckigkeit. Deshalb ändert sie im Rahmen der Geschichte die Einstellungen oder Ansichten der Charaktere um sie herum – oder gleich die ganze Welt (Katniss Everdeen in Hunger Games).

Beispiele für einen Change Character wären Walter White (Breaking Bad), Michael Corleone (The Godfather) oder Luke Skywalker (Star Wars, A New Hope). Im Gegensatz dazu einige konstante Figuren: Indiana Jones, Ripley (Alien) oder Tony Soprano (The Sopranos).

Unterschied zwischen konstanter und sich verändernder Figur – Erich Schreiner Autor

CHARACTER ARCS FÜR SICH VERÄNDERNDE FIGUREN

Optimistic Arc: Der Charakter überwindet seinen Fehler / lernt die Lektion und verändert sich zum Besseren, wodurch er sein Ziel erreicht und den Konflikt löst.

Ambivalent Arc: Die Figur meistert ihren Fehler und ändert sich, erreicht ihr Ziel aber nur zum Teil, weshalb solche Enden oft als realistischer wahrgenommen werden.

Negative Arc: Der Charakter startet positiv und driftet ins Negative ab, weil er sich weigert, die Lektion zu lernen (Michael Corleone in der Pate).

CHARACTER ARCS FÜR KONSTANTE FIGUREN

Optimistic Arc: Die Figur verändert ihre Welt und erreicht ihr Ziel.

Ambivalent Arc: Die Figur erreicht nur einen Teilsieg.

Negative Arc: Die Figur schafft es, weder ihre Welt zu beeinflussen, noch ihr Ziel zu erreichen.

Character Arcs – Erich Schreiner Autor

NETFLIX PITCH WORKSHOP

Der Workshop kann umsonst angesehen werden, allerdings nur in Englisch. Im Gegensatz zu Mullins oder Weiland geht Chris Mack die Problematik der Charakterentwicklung praktischer an, wie ich finde. Zwar legt er wert auf eine oder mehrere Veränderungen der Figuren im Lauf der Geschichte, geht aber nicht so sehr ins Detail wie die oben vorgestellten Autoren.

Da bei Netflix hauptsächlich TV-Serien produziert werden, ziehen sich Character Arcs meist über die ganze Staffel. Jedes Ereignis, das zu einer Veränderung der Figur auf dem Weg zur letzten Episode beiträgt, wird als Emotional Plot Point bezeichnet. Folgend einige Beispiele solch großer Arcs:

  • von ›ehrlich‹ => zu ›unehrlich‹
  • von ›mutig‹ => zu ›ängstlich‹
  • von ›mitfühlend‹ => zu ›herzlos‹
  • von ›führend‹ => zu ›folgend‹
  • von ›bescheiden‹ => zu ›anmaßend‹
  • von ›selbstlos‹ => zu ›gierig‹
  • von ›loyal> => zu ›heimtückisch‹

Wohlgemerkt: Das sind große emotionale Transformationen, die sich über zehn oder mehr Episoden hinziehen. Deshalb wird dieser Prozess auf kleinere Meilensteine pro Folge aufgeteilt. Dabei werden auch Veränderungen in Betracht gezogen, die nicht von innen kommen. Zum Beispiel:

  • von ›kein Geld haben‹ zu ›Geld haben‹
  • von ›kein Sex haben‹ zu ›Sex haben‹

Beides Mini-Arcs der ersten Episode von Breaking Bad. Zur Erklärung: Am Anfang der Episode hat Walter White keinen Sex. Er wirkt abgestumpft und willenlos, wie ein Ball, der von einer Ecke in die andere getreten wird. Außerdem hat er als Chemielehrer nicht viel Geld. Ein Problem, weil er kurz darauf eine positive Krebsdiagnose bekommt und die Behandlung teuer ist.

Im Lauf der Episode kocht er die erste Charge Meth und kommt zu einer Menge Geld. Am Ende der Folge nimmt er sich den Sex auf eine eher dominante Art. Beides verdeutlicht seine Charakterentwicklung innerhalb der ersten Episode auf dem Weg zum gefürchteten und berüchtigten Meth-Dealer am Ende der Serie.

Neue Mini-Arcs für Folgeteile können sich aufgrund geänderter Überzeugungen bezüglich der Welt, der Figuren oder ähnlicher Veränderungen ergeben. Zusätzlich könnten sie aus folgenden Gründen entstehen: 

  • ein Wechsel der Location: vom ›Dorf‹ => in die ›Stadt‹ etc.
  • eine Änderung der Situation: ›Single‹ wird ›Vater‹, ›gesund‹ wird ›krank‹ etc.
  • neue Herausforderungen: stärkere Gegner etc.
  • eine Veränderung der Gesellschaft: neue Gesetze etc.
  • mehr Drama (Schuld, Phobien, physische Beeinträchtigungen, Traumata (Ghosts) aus vorangegangenen Episoden etc.

Chris Mack erwähnt während des Workshops auch den positiven Character Arc, den er als ›Character Completion Arc (from flawed to complete)‹ beschreibt. Noch mal zur Erinnerung: Eine Figur mit einem Mangel (schlechte Eigenschaft, falsche Überzeugung, schädigendes Verhalten etc.), führt im Lauf der Geschichte einen inneren Kampf mit sich selbst, um sich kurz vor dem Ende, nachdem sie ihre Lektion gelernt hat, zum Besseren zu ändern. Womit sie im Rahmen ihrer Charakterentwicklung ‚ganz‘ oder ‚heil‘ wird. Dies kann Bedingung sein, um den externen Konflikt lösen zu können oder einfach das Ende der Story einläuten, falls der Fokus auf dem Charakter und seiner Entwicklung gelegen hat.

Veränderung kann also auf unterschiedliche Arten dargestellt werden und muss nicht auf die emotionale Ebene beschränkt sein.


Zwischenfazit: Wenn es um Charakterentwicklung geht, gehen die Meinungen, wie ich am Anfang meiner Ausführungen bereits angemerkt habe, weit auseinander. Ich selbst halte den Prozess so einfach wie möglich, wobei ich meinen Protagonisten oft eine Schwäche in Form einer schlechten Charaktereigenschaft oder eines Traumas mitgebe, das ihnen bei der Verfolgung ihrer Ziele im Weg steht.

Die von Weiland und Mullins erläuterten Möglichkeiten der Charakterentwicklung ergeben sich bei mir oft aus der jeweiligen Geschichte. Das bedeutet, dass ich manchmal erst nach Fertigstellung von Akt 1 und Akt 2 weiß, ob der Arc für die Figur positiv oder negativ oder irgendwo dazwischen liegen wird. Wobei meine Protagonisten meist ein Happyend erwartet. Das liegt daran, dass ich ihnen während der Story das Leben so schwer wie möglich mache, ergo haben sie sich einen wenigstens halbwegs positiven Ausgang verdient, wie ich finde.

Bei den Romances hab ich mir die Traumata der Protagonisten, die es ihnen schwerer machen, im Jetzt zusammenzukommen, natürlich vorher überlegt, weil diese Schwächen oder entgegenstehenden Überzeugungen ausschlaggebend für den Verlauf der Geschichte sind.

Nichtsdestotrotz ergeben sich die konkreten Schwächen, falschen Überzeugungen oder schlechten Verhaltensmuster oft erst während des Schreibens der ersten Szenen. Falls die so erfundenen Mängel zu den Figuren und zur Geschichte passen, bau ich einfach darauf auf und entwickle das Ganze weiter.

Außerdem wäre noch anzumerken, dass viele Figuren einfach keine Charakterentwicklung brauchen und dies von den Lesern gewisser Genres auch nicht erwartet wird.

Die Ermittler in Krimis müssen sich nicht ändern, sondern den Fall lösen. Natürlich gibt es auch viele solcher Romane, in denen die Hauptfiguren zusätzlich private Probleme überwinden müssen (vermutlich, um Vielschichtigkeit zu erreichen). Aber wenn das zu viel wird, könnte es die Krimileser auch nerven. Der Mord und dessen Lösung müssen klar im Vordergrund stehen, während private Probleme deutlich im Hintergrund bleiben sollten. Zumindest meiner Meinung nach.

Viele Protagonisten bekannter Reihen verändern sich nie, weil sie von Anfang an als konstante Figuren angelegt wurden. Man denke nur an die unzähligen Gerichts- und Crime Serien. CSI, Mindhunter, Akte X, Bones, Criminal Minds, Columbo, The Mentalist und so weiter und so fort. Auch wenn die Grenzen neuerdings zunehmend verschwinden (The Wire, True Detective).

Außerdem können die Abgrenzungen der einzelnen Character Arcs auch fließend sein, deshalb würde ich mich nicht ausschließlich auf die oben vorgestellten Möglichkeiten beschränken. Manchmal reicht es schon, einer Figur eine penetrante Eigenschaft mitzugeben, um ihr ein interessantes Innenleben zu verschaffen und sie dreidimensionaler und damit unterhaltsamer zu machen.

Bei meiner Urban Fantasy Serie Crown Of Shadows habe ich einen der Protagonisten mit extremem Ehrgeiz gestraft, der in seiner Vergangenheit begründet liegt und ihn hin und wieder in einen internen Konflikt zwingt: Tun, was richtig ist – oder was ihn näher an sein Ziel bringt.

Die Protagonistin der Serie hat zum Beispiel weder eine Schwäche noch falsche Glaubenssätze oder falsche Überzeugungen. Sie will nur ‚besonders‘ sein und wird es sogar – nur nicht auf die Art, die sie sich vorgestellt hat.

Bei einer meiner Biker Romances (Skulls MC, Jaxon – Deatmatch) hab ich die Protagonisten wie folgt angelegt:

Sadi ist eine Romni, die von ihrem Bruder unterdrückt wird. Sie sieht sich selbst als entstellt an, weil er ihr Gesicht mit einem Messer ‚verschönert‘ hat und die daraus resultierende Narbe sie – ihrer Meinung nach – zu einem hässlichen Entlein macht. Sie will frei sein.

Jax ist Ex-Mitglied der Aryan Brothers. Sein Vater war ein Rechtsradikaler, der ihn bei jeder Gelegenheit kleingemacht hat. Ergo sieht es mit seinem Selbstbewusstsein nicht allzu gut aus. Seine Schwäche besteht darin, anderen gefallen zu wollen. Sein alter Herr ist auch der Grund, warum er ein berüchtigtes illegales Kampfsportturnier gewinnen will, an dem sein Vater gescheitert ist, um sich selbst zu beweisen, dass er ‚besser‘ ist.

Die beiden haben also emotionale Probleme, kommen aus komplett unterschiedlichen Milieus und müssen sich während der Geschichte ineinander verlieben. Bei einer Romni und einem Ex-Nazi nicht ganz so einfach. Aber na ja, da es sich um eine Romance handelt, hat es am Ende natürlich geklappt. ‚Beschädigte‘ Charaktere wie die vorgestellten bieten sich für dieses Genre an, weil sie sich gegenseitig heilen können. Das kommt eigentlich immer gut an.

Mehr Gedanken bezüglich der Charaktere als die oben angeführten hatte ich mir übrigens nicht gemacht, bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe.

CHARAKTERENTWICKLUNG IM VIERAKTER

Folgend einige Beispiele, wie man die bis zu diesem Punkt vorgestellten Methoden oder Teile davon im 4-Akter verwenden und kombinieren könnte. Dabei ist zu beachten, dass die angesprochenen Möglichkeiten nicht das Ende der Fahnenstange sind und euch nur als Anregung dienen sollen.

Wie sieht das ‚Want For Need‘ Schema im 4-Akter aus? – Erich Schreiner Autor

WANT FOR NEED

Akt 1: Das externe Ziel (Want) wird vorgestellt, das interne (Need) nur angedeutet und der Mangel (Flaw) gezeigt. Der Held entschließt sich, sein Ziel zu verfolgen.

Akt 2: Er verfolgt sein Ziel, wird aber auch mit seinem ‚Need‘ konfrontiert, den er vorerst verleugnet.

Akt 3: Er verfolgt sein Ziel, ignoriert den ‚Need‘ erneut und erfährt deshalb einen emotionalen Tiefpunkt (Down Moment).

Akt 4: Der Held erkennt, was er wirklich braucht (Lektion gelernt) und ersetzt sein externes Ziel durch das interne (Want for Need). Dadurch verändert er sich und wird ‚ganz‘.

Dazu ein erfundenes Beispiel, angelehnt an die Monster AG:

Akt 1: Bobs Firma schreibt einen hoch dotierten Job aus, den er unbedingt haben will (Want). Ihm bleibt eine Woche, um seinem Boss zu beweisen, dass er würdig ist. Allerdings wirkt Bob niedergeschlagen und unglücklich (Flaw), als ob ihm etwas fehlen würde. Sein Leben ist trist und wird vollkommen durch den Job bestimmt.

Am Sonntag vor den entscheidenden fünf Tagen parkt seine Ex-Frau überraschend die gemeinsame sechsjährige Tochter bei ihm, weil sie sich um die Beerdigung ihrer Mutter kümmern muss. Bob hat keinen Bezug zu Abby, die seine Ex bisher alleine großgezogen hat. Nichtsdestotrotz hat er einen Moment mit ihr zusammen, den er sichtlich genießt (‚Need‘ und mögliche Zukunft werden angedeutet). Abgesehen davon betrachtet er sie als Hindernis und würde sie gerne wieder loswerden.

Akt 2: Bobs Woche beginnt stressig. Er engagiert eine Babysitterin, um sich nicht mit Abby belasten zu müssen. Trotzdem hat er mehrere Momente, während derer seine Tochter ihn glücklich macht. Aber er kann oder will das nicht sehen (ignoriert ‚Need‘) und konzentriert sich weiterhin auf den vermeintlich begehrten Job.

Akt 3: Bob sticht mehrere Kontrahenten aus und hat immer weniger Zeit für Abby, bis er eine letzte wichtige Aufgabe erledigen soll und die Babysittern ausfällt, worauf er beschließt, seine Tochter zu seiner Ex zu bringen. Auf dem Weg bleibt sein Auto liegen und er muss mehrere Stunden auf die Reparatur warten, die er zusammen mit Abby im Zoo verbringt. Obwohl er denkt, die Chance auf den Job verpasst zu haben, lebt er zum ersten Mal richtig auf und scheint glücklich zu sein (ein weiterer Ausblick auf die Zukunft, die er haben könnte). Kurz darauf bekommt er einen Anruf seiner Assistentin: Er hat Glück im Unglück, muss aber sofort antreten, wenn er den Job haben will.

Bob liefert Abby daraufhin bei seiner wenig begeisterten Ex ab (ignoriert ‚Need‘ erneut) und erledigt die Aufgabe, obwohl er nicht wirklich glücklich wirkt. Danach verbringt er das Wochenende niedergeschlagen alleine in seinem Apartment (Down Moment und Spiegelmoment zum Anfang, wo er ebenfalls geknickt wirkt).

Akt 4: Bob erkennt seinen Fehler (Lektion gelernt), lässt den Job sausen (Want for Need) und fährt zu seiner Tochter, um sein Leben komplett umzukrempeln (Veränderung) und glücklich (‚ganz‘) zu werden.

Was macht ein Dilemma aus? – Erich Schreiner Autor

DILEMMA

Akt 1: Der Held verfolgt sein Ziel.

Akt 2: Während er das erste Ziel verfolgt, taucht ein zweites auf.

Akt 3: Der Held wird gezwungen, sich zwischen den Zielen zu entscheiden, die ihm beide wichtig sind (Dilemma)!

Akt 4: Aus einem Dilemma kann man sich nur durch eine unerwartete Lösung (Twist) befreien, die sich aber natürlich aus der Geschichte ergeben muss, oder durch ein Opfer (Sacrifice), indem man eines der Ziele bewusst aufgibt.

Folgend ein Beispiel, das an einen meiner Biker Romane (Skulls MC, Jaxon – Deathmatch) angelehnt ist:

Akt 1: Jax, ein MMA Kämpfer (Mixed Martial Arts), will bei den Skulls (Motorradclub) als Vollmitglied aufgenommen werden (Ziel 1), weil die Jungs mittlerweile zu seiner Ersatzfamilie geworden sind. Kurz darauf läuft ihm Sadi (Ziel 2) über den Weg, zu der er sich sofort hingezogen fühlt. Die Romni wird allerdings von ihrem Bruder verfolgt.

Hinweis: Ob das zweite Ziel im ersten oder am Anfang des zweiten Akts auftaucht, ist nicht so wichtig. Es muss nur früh genug sein, um herausstellen zu können, wie bedeutsam es für den Helden ist.

Akt 2: Jax vertieft die sich anbahnende Beziehung zu Sadi . Gleichzeitig arbeitet er daran, als Vollmitglied beim Motorradclub aufgenommen zu werden, während Sadis Bruder den Druck erhöht.

Akt 3: Da der mit Sadi einhergehende Ärger (Bruder) schlecht für die Geschäfte der Skulls ist, stellen sie Jax vor die Wahl: Sadi oder die Vollmitgliedschaft beim MC (Dilemma).

Akt 4: Jax entkommt der Zwickmühle, indem er ein gut dotiertes illegales MMA Match für die Skulls gewinnt und damit den Ärger, den Sadis Bruder verursacht hat, kompensiert (Twist). Er muss also kein Opfer bringen und sich zwischen Sadi oder dem MC entscheiden.

Hinweis: Die Story ist etwas komplizierter gestrickt. Ich hab sie für dieses Beispiel entsprechend vereinfacht und abgeändert, um das Konzept des Dilemmas zu verdeutlichen.

Wie ihr sehen könnt, funktionieren diese Schemas oft nur zusammen mit den Ereignissen der externen Handlung (Sadis Bruder erhöht den Druck, die Biker reagieren darauf, was sich wiederum auf Jaxons Ziele auswirkt). Wie man den Plot und die emotionalen Ebenen der Figuren am besten miteinander verknüpft, werde ich im Artikel zum Plotten erklären.

Overcoming the Flaw – Erich Schreiner Autor

OVERCOMING THE FLAW

Akt 1: Der Mangel (Flaw) wird gezeigt und der Held entscheidet sich für ein Ziel, das durch den Mangel konterkariert wird.

Akt 2: Er verfolgt das Ziel, obwohl ihm der Mangel dabei im Weg steht.

Akt 3: Er verfolgt das Ziel weiter und stolpert über seinen Mangel (Down Moment).

Akt 4: Er erkennt seinen Mangel und ändert sich (Lektion gelernt), um ‚ganz‘ zu werden und den externen Konflikt lösen zu können.

Hinweis: Im Falle eines negativen Arcs würde er nichts lernen, sich nicht ändern und am Ende den externen Konflikt nicht lösen können.

Frei erfundenes Beispiel, angelehnt an Company Men:

Akt 1: Mark ist ein junger Anlageberater und Familienvater, der extrem stolz (Flaw) auf das ist, was er bereits erreicht hat und auf seinen Schwiegervater, einen selbstständigen Handwerker, entsprechend herabsieht. Als Marks Unternehmen Pleite macht, steht er auf der Straße und wird gezwungen, sich einen neuen Job zu suchen (Ziel).

Akt 2: Die Suche gestaltet sich schwieriger als angenommen. Nichtsdestotrotz lehnt Mark das Angebot seines Schwiegervaters ab, ihn bei der Renovierung eines Hauses unterstützen zu dürfen (Flaw) und muss sich zwei Wochen später schweren Herzens von seinem Sportwagen trennen, weil die laufenden Kosten drohen, ihn zu erdrücken.

Akt 3: Sein Schwiegervater bietet Mark, dank der Bemühungen seiner Tochter (Marks Ehefrau), erneut an, für ihn arbeiten zu dürfen, bis er einen neuen Job gefunden hat. Aber Mark ist zu stolz, lehnt erneut ab (Flaw) und ist einen Monat später gezwungen, das geräumige Haus zu verkaufen und seine Familie in einem kleineren unterzubringen (Down Moment).

Akt 4: Marks Bemühungen, einen Job als Banker zu finden, verlaufen allesamt im Sand. Als seine Ehe zu zerbrechen droht, erkennt er seinen Fehler und bittet seinen Schwiegervater endlich um Hilfe (Lektion gelernt, Veränderung). Er wird eingestellt und hält seine Familie über Wasser. Das dadurch gewonnene Selbstwertgefühl ermächtigt ihn schließlich, sich selbstständig zu machen und ein erfolgreicher Fondsmanager zu werden.

Overcoming the Flaw 2 – Erich Schreiner Autor

Folgend eine einfachere Version des Overcoming the Flaw Schemas.

Akt 1: Der Mangel des Helden wird gezeigt und er macht sich daran, sein Ziel zu verfolgen.

Akt 2: Der Lernprozess zur Überwindung des Mangels wird gestartet.

Akt 3: Der Lernprozess wird fortgesetzt.

Akt 4: Der Held erkennt seinen Mangel, überwindet ihn und ändert sich.

Das folgende Beispiel hab ich an Gran Torino angelehnt und entsprechend vereinfacht:

Akt 1: John, ein krebskranker Veteran des Koreakriegs, hasst Asiaten (Flaw). Er ist mürrisch und führt ein unzufriedenes Leben als frischer Witwer, dem der Verfall seines gewohnten Umfelds nicht entgangen ist. Sein Viertel wird zunehmend von Banden kontrolliert, die den anderen Bewohnern das Leben schwer machen. Als der vierzehnjährige Sohn seiner vietnamesischen Nachbarn in seine Garage eindringt, um Werkzeug zu stehlen, ist er außer sich und sieht seine Befürchtungen bestätigt.

Die Eltern des Delinquenten, der von seinem kriminellen Cousin angestiftet wurde, verdonnern ihren Sohn dazu, sein Vergehen bei John abzuarbeiten. Der ist nicht begeistert, kann sich aber gegen die entschlossenen Eltern nicht durchsetzen und will das Ganze so schnell wie möglich hinter sich bringen (Ziel).

Akt 2: John beschäftigt Vong, so gut er kann, und freundet sich langsam mit ihm und seiner sechzehnjährigen Schwester an, während Vongs Cousin weiterhin versucht, ihn auf die schiefe Bahn zu bringen. Johns vorurteilsbehaftete Aversion gegen seine Nachbarn schwindet langsam (Lernprozess) und er rettet Vongs Schwester sogar vor einigen Gangmitgliedern.

Akt 3: John lernt seine Nachbarn langsam zu schätzen und blüht regelrecht auf (Lernprozess). Außerdem stellt er sich gegen Vongs Cousin und macht ihn vor den anderen Bandenmitgliedern lächerlich. Aus Rache entführt dieser Vongs Schwester und vergewaltigt sie. Johns Diagnose bezgl. der Krankheit verschlechtert sich – er hat nicht mehr lange zu leben.

Akt 4: John legt seine Vorurteile komplett ab und gesteht sich ein, dass er die Vongs wirklich mag (Flaw überwunden => Lektion gelernt). Da er sich im Endstadium seiner Krankheit befindet und nicht mehr lange zu leben hat, provoziert er eine Auseinandersetzung mit der Bande und lässt sich vor Zeugen erschießen (Sacrifice). Nach seinem Tod landen die Bandenmitglieder im Gefängnis. John hat die Vongs und das Viertel mit seinem Opfer vor der kriminellen Gang gerettet.

Die besprochenen Beispiele waren natürlich alle auf Figuren bezogen, die sich im Lauf der Geschichte ändern (Change Characters). Die Story um einen konstanten Charakter verläuft eher handlungsbezogen, was bedeutet, dass die Ereignisse der externen Handlung im Vordergrund stehen und die emotionale Ebene vernachlässigt wird. Allerdings könnte man eine Nebenfigur eine Charakterentwicklung durchlaufen lassen, die der Protagonist angestoßen hat, falls dies der Geschichte zusätzliche Tiefe verleiht.

Wem die oben angeführten Beispiele zu kompliziert oder zu einschränkend sind, könnte den Mangel und das entgegenstehende Ziel in einem Satz festhalten, um wenigstens einen groben Fahrplan für die Entwicklung des Charakters zu haben. Beispiele wären:

  • Ein Spielsüchtiger (Flaw) muss Geld für die lebensnotwendige Operation seiner Schwester beschaffen (Ziel)
  • Eine Rassistin (Flaw) muss die Hochzeit ihrer Tochter mit einem Migranten organisieren (Ziel)
  • Ein Kinderhasser (Flaw) muss einspringen, um eine Gruppe Kinder in einem Feriencamp zu bespaßen (Ziel)
  • etc.

Damit hätte man die angestrebte Entwicklung zumindest im Hinterkopf und könnte anfangen, sich Gedanken über die für die Veränderung der Figur nötigen Ereignisse zu machen.

Zum Schluss möchte ich euch noch auf den einen Kardinalfehler aufmerksam machen, den ihr unter allen Umständen vermeiden solltet:

Ein wirklich kapitaler Fehler im Umgang mit Romanfiguren wäre, diese mit gewissen Eigenschaften, Weltsichten und typischen Verhaltensmustern im ersten Akt anzulegen, um sie im zweiten vollständig konträr zu dieser Basischarakterisierung handeln zu lassen. Das ist inkonsistent und katapultiert den Leser im schlimmsten Fall aus der Geschichte.

Finales Fazit: Wie ihr gesehen habt, gibt es eine Menge Methoden und Techniken, um die Charakterentwicklung eines fiktiven Charakters anzugehen. Dabei solltet ihr nicht vergessen, dass die vorgestellten Schemas hauptsächlich als Anregung dienen und es etwaigen Anfängern erleichtern sollen, einen Einstieg in die durchaus komplexe Thematik zu finden. Denn so abstrakt die Theorien auch sein mögen, sie finden sich doch in der ein oder anderen Form in fast jeder Geschichte wieder, die einen oder mehrere Character Arcs enthält.

Falls eure Figur konstant und damit emotional gefestigt ist, könnt ihr Veränderung durch die im Abschnitt über Netflix vorgestellten Methoden erzeugen oder eine Nebenfigur eine entsprechende Entwicklung durchmachen lassen. Denn Veränderung, in welcher Form auch immer, suggeriert Bewegung, was einer Geschichte generell zugutekommt.

Und um noch einmal zu zeigen, dass wirklich nichts in Stein gemeißelt und alles möglich ist, noch ein letztes Beispiel eines Charakters, der, obwohl er konstant angelegt wurde, trotzdem eine Lektion lernt, die ihn für den Rest der Geschichte auf Linie hält. Ich spreche von Tony Stark (Iron Man, Teil 1). Hier lernt er im ersten Akt, dass er bis auf seinen Job nichts Wichtiges vorweisen kann (zum Beispiel eine Familie) und die Waffen seiner Firma offensichtlich in die falschen Hände geraten sind, worauf er beschließt, die Waffenproduktion einzustellen. Er kommt zu diesem Schluss, nachdem er entführt und drei Monate lang gefangengehalten wurde, um bei der Flucht einen neugewonnenen Freund zu verlieren, der ihm kurz vor dem Tod sagt, er solle sein Leben nicht verschwenden. Danach ändert Tony seine Einstellung und stellt die Waffenproduktion gegen alle Widerstände ein. Dies zieht sich bis zum Showdown des Films. Außerdem bandelt er mit seiner Assistentin Pepper Potts an.

Stark ist im Grunde ein konstanter Charakter, der dennoch eine Lektion lernt. Und zwar – entgegen all der vorherigen besprochenen Beispiele – am Anfang der Geschichte innerhalb des ersten Akts. Danach verhält er sich konstant und verfolgt sein Ziel, das sich erst durch das Lernen der Lektion ergeben hat, bis zum Schluss des Films.

Für den Charakter einer anderen Geschichte könnte Tonys Lektion vielleicht ein Trauma sein, an dem er bis zum Ende zu beißen hat. Je nachdem, wie es eben am besten passt.

Damit wollte ich noch einmal klarstellen, dass wirklich nichts als in Stein gemeißelt betrachtet werden sollte und die vorgestellten Methoden, je nach Gusto, kombiniert werden können. Wichtig ist nur, so viele Optionen wie möglich zu kennen, um am Ende für die eigene Geschichte die besten Entscheidungen treffen zu können.

Das wär's von meiner Seite aus zum Thema Charakterentwicklung auch schon gewesen. Als Nächstes werde ich den Artikel übers Plotten angehen.

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